Anonyme Geburt – Erfahrungen aus Frankreich

Catherine Bonnet hat den Vortrag im Rahmen der Enquete „Adoption- Eine Chance für Kinder“ am 20. Juni 2001 in St. Pölten, Österreich, gehalten. Der Vortrag wurde von Dr. Christian Fiala übersetzt und von der Redaktion überarbeitet und ist in gekürzter Version wiedergegeben.

Catherine Bonnet: „Für Frauen in einer verzweifelten Situation bedeutet die anonyme Geburt nicht Grausamkeit, sondern vielmehr eine Form mütterlicher Liebe“.

Wie kommt es, dass immer noch Frauen anonym entbinden, wo es doch Möglichkeiten der sozialen und wirtschaftlichen Hilfe für junge Frauen in Schwierigkeiten gibt, und wo die Möglichkeiten der Verhütung und des Schwangerschaftsabbruchs es den Frauen erlauben, ihre Fruchtbarkeit besser zu kontrollieren? Unsere Gesellschaft scheint zu vergessen, dass einige Frauen durch die späte Diagnose einer ungewollten Schwangerschaft in große Verwirrung und in eine unglaubliche Einsamkeit kommen. Was wird aus dem Kind, das sie gebären? Ist es sinnvoll, zu leugnen, dass es immer schon Frauen gegeben hat und bis heute gibt, die die Mutterrolle in ihrer aktuellen Situation unmöglich annehmen können? Von diesen Frauen entscheiden sich in Frankreich jedes Jahr etwa 700 für eine anonyme Geburt. Sie lehnen es ab, Mutter zu werden und eine immerdauernde Beziehung zu dem Kind aufzubauen. Welches sind ihre Beweggründe?

Wie sieht die Realität aus?
In Frankreich wurden die Probleme dieser Frauen bis zum Jahr 1990 nicht wahrgenommen. Sie haben ihre Schwangerschaft verborgen, haben manchmal in den letzten Wochen vor der Geburt eine heimliche Unterkunft oder eine finanzielle Notunterstützung bekommen, sind diskret zur Geburt gekommen und haben ihr Kind danach im Krankenhaus gelassen. Die Ablehnung der Mutterrolle dieser Frauen stieß in den geburtshilflichen Abteilungen auf Unverständnis, da unsere Gesellschaft nur „glückliche“ Schwangerschaften akzeptiert. Es herrscht noch die Vorstellung von einer natürlichen Entstehung der Mutterliebe durch die Schwangerschaft, die Geburt und die Stillzeit. Deshalb ist es für unsere Gesellschaft am einfachsten, ausschließlich wirtschaftliche Gründe zu vermuten, wenn eine Frau die Mutterrolle ablehnt.

Gefahr einer tragischen Geburt
Meine ersten Untersuchungen von 1986-1989 (Bonnet, 1990) zeigten, daß die Gründe, welche zum Verlassen des Kindes führen, im wesentlichen psychologischer Natur sind. Die Frauen stellen ihre Schwangerschaft meist sehr spät fest – im fünften oder sechsten Monat – weil sie die Schwangerschaft an sich leugnen, manchmal sogar bis zur Geburt. Diesem Leugnen der Schwangerschaft liegt häufig eine erst kurz zurückliegende Misshandlung zu Grunde (Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Inzest) oder eine Misshandlung in der Kindheit (körperlich, sexuell oder psychisch). Wenn die Frauen keine psychologische Betreuung erhalten, kann das Wahrnehmen der Schwangerschaft diese traumatischen Erfahrungen erneut in Erinnerung rufen. Die Folgen einer nicht geheilten sexuellen Gewalterfahrung werden mit dem vermischt, was das ungeborene Kind darstellt, womit das Entstehen einer Mutterbeziehung unmöglich ist.
Einige dieser Frauen sind sich der Unmöglichkeit, das Kind zu lieben, bewusst. Sie können dem Kind lediglich das Leben geben und es Adoptiveltern anvertrauen, in der Hoffnung, es werde dort glücklich sein.
Für den Fall, dass diese Frauen in der Schwangerschaft nicht betreut werden, ist die Gefahr einer tragischen Geburt groß. Meist sind sie während der Geburt ganz alleine außerhalb eines Krankenhauses, weil sie ja die Schwangerschaft verdrängt und in der Folge versteckt haben. Von Panik erfasst, lassen einige Frauen ihr Kind einfach an einem öffentlich zugänglichen Platz liegen. Andere werfen es in eine Mülltonne oder bringen es zum Schweigen, indem sie es töten. Diesen verzweifelten Frauen kann man am besten mit einer Betreuung während der Schwangerschaft helfen und so auch die beste Lösung für das Kind suchen.

Die Rechtslage in Frankreich
Frankreich hat weltweit eines der besten Modelle der Schwangerschaftsbetreuung. Darin ist die anonyme Geburt als eine Maßnahme zum Schutz der Kinder enthalten. Frankreich und Luxemburg sind derzeit die einzigen Länder, in welchen Frauen einen gesetzlichen Anspruch haben, zwischen der anonymen Geburt und der Anerkennung des Kindes frei zu wählen (das Recht auf eine anonyme Geburt wurde 1993 in das Zivilrecht aufgenommen). In anderen Ländern gibt es zumindest die Möglichkeit der anonymen Geburt, beispielsweise in Spanien, Italien und Kolumbien. Im Jahr 1996 hat der Gesetzgeber in Frankreich die Regelung der anonymen Geburt folgendermaßen ergänzt:
•    Frauen, welche planen, sich von ihrem Kind zu trennen, muss eine psychologische Betreuung angeboten werden.
•    Nach einer anonymen Geburt soll eine kurze Beschreibung der Situation, sowie der Eltern zusammengestellt werden, welche nicht zur Identifizierung der Eltern führen, aber dem Kind einige Angaben über seine Herkunft geben soll.
•    Die Frauen haben zu einem späteren Zeitpunkt jederzeit die Möglichkeit, die Anonymität aufzuheben.

Vom Umgang mit den Kindern
Es gibt in Frankreich derzeit eine weit verbreitete Meinung, nach der die gesetzlichen Grundlagen der anonymen Geburt in Frage zu stellen sind. Danach soll jede Frau vor der Geburt ihre Identität offen legen, auch wenn sie ihr Kind zur Adoption freigeben möchte. Diese Daten sollen vertraulich behandelt werden und lediglich einer noch zu gründenden Mediations-Organisation zur Verfügung stehen. Ziel ist es, Kindern zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen, die „richtige“ Mutter wieder zu finden. Nach dieser Meinung ist lediglich die leibliche Mutter die einzige Mutter für das ganze Leben, womit der genetischen Mutter der Vorrang vor der Adoptivmutter gegeben wird. Es wird immer wieder auf die Fälle vor dem Jahr 1990 hingewiesen, wo einigen Frauen, insbesondere Minderjährigen, das Kind „weggenommen“ wurde. Diese Frauen haben sich einem Druck des beruflichen, sozialen oder familiären Umfeldes gebeugt und das Kind a-nonym zur Welt gebracht, obwohl sie es eigentlich behalten wollten. Unter diesen Bedingungen haben sie allerdings nicht wirklich der anonymen Geburt zugestimmt. Folglich konnten sie die Trennung, welche sie als traumatisches Ereignis erlebten, nie überwinden und haben zu einem späteren Zeitpunkt versucht, die Entscheidung rückgängig zu machen.
Man sollte jedoch nicht vergessen, dass es andererseits viele Frauen gibt, welche die Entscheidung zu einer anonymen Geburt und Adoption in vollem Bewusstsein der Bedeutung getroffen haben. Soll man ihnen nun Schuldgefühle machen, indem man sie zwingt, den Namen zu hinterlassen, obwohl sie sich über die Hintergründe im Klaren sind und sich von ihrem Kind trennen, um es zu schützen?
Die Parlamentarische Kommission für die Rechte des Kindes hat im Namen der Internationalen Konvention der Rechte des Kindes 1998 eine „Verpflichtung zur Wahrheit“ bezüglich der Herkunft von Kindern gefordert. Deshalb stellt sich die Frage: Soll man Kindern nach einer anonymen Ge-burt alles sagen?

Welches Wissen hilft dem Kind?
Einige Frauen weigern sich, Angaben über ihr Privatleben oder die Situation, welche zu der Schwangerschaft geführt hat, zu machen, weil diese Informationen das Kind verletzen würden. Auch wollen sie deshalb ein zukünftiges, möglicherweise schmerzhaftes Treffen vermeiden. Was könnten sie dem Kind schon sagen? Hilft es dem Kind wirklich, zu erfahren, dass es in einer ausweglosen Situation gezeugt und ausgetragen wurde? In diesem Sinn ist die Anonymität der Geburt ein weiser Schutz des Kindes vor einer Realität, welche manchmal schwierig zu ertragen wäre. Die Frauen wollen ihre Rechte nicht auf Kosten des Kindes durchsetzen. Wenn eine Frau sich entscheidet, das Kind nicht zu behalten und nicht seine Mutter zu werden, kann sie dem Kind lediglich das Leben geben und es einer Adoptivfamilie anvertrauen. Die endgültige Trennung nach der Geburt ist nicht ein Akt der Vernachlässigung, sondern vielmehr ein einzigartiger Akt der Liebe.

Im Rahmen des Möglichen …
Unsere Gesellschaft muss die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass es auch heute noch Frauen gibt, die ihr Kind bei der Geburt nicht annehmen und lieben können. Die anonyme Geburt ist ihre Art, die Sorge und Liebe auszudrücken. Sie geben dem Kind das Leben, erkennen es als Persönlichkeit an und vertrauen es anderen an. Wenn manche Frauen in dieser Situation die Anonymität wählen, dann tun sie dies, um dem Kind mögliches Leiden zu ersparen, falls es plötzlich mit der Realität konfrontiert würde. Sie gestehen ihm das Recht zu, von der Geburt an geliebt zu werden und einen Namen zu haben, indem sie drei Vornamen auswählen. In diesem Sinne steht das Recht der Frau auf Respekt ihres Privatlebens nicht den essentiellen Rechten des Kindes entgegen, wie sie in der Internationalen Konvention der Rechte des Kindes verankert sind. Einige scheinen vergessen zu haben, dass der Artikel 6 dieser Konvention sagt: „Im Rahmen des Möglichen muss alles getan werden, um das Überleben des Kindes sicherzustellen.“ Ferner scheinen einige den Artikel 7 missbräuchlich zu interpretieren, wo festgehalten wird, dass ein Kind bei der Geburt das Recht auf einen Namen hat und, im Rahmen des Möglichen, seine Eltern kennen, sowie bei ihnen bleiben sollte.

Zurück zu den Wurzeln
Die Frage nach der Herkunft ist komplex. Sie reicht von einer normalen und gesunden Neugierde bis zu einem selbst gemachten Leiden. Welche Antwort sollte Adoptivkindern gegeben werden?
Zunächst sollten sie angenommen werden. Ferner sollten ihre Fragen genau interpretiert werden, wobei ihr Leiden und ihre Sichtweise respektiert werden müssen. Meiner Meinung nach liegt die Lösung in einer Hilfestellung und psychologischen Begleitung, damit sie die Anonymität der Geburt akzeptieren und respektieren können. Es sollte den Kindern geholfen werden, den Mut und klaren Verstand zu sehen, mit welchem die Mutter sie auf die Welt gebracht und anschließend ihre Mutterliebe umgesetzt hat. Wichtig scheint auch der Hinweis, dass die Freigabe zur Adoption nicht als demütigender Akt bezeichnet werden kann. In diesem Sinne können die Adoptivkinder begleitet werden, um die Trauerarbeit zu beginnen.

Abgeben statt aufzwingen
Die menschliche Fruchtbarkeit und die Fortpflanzung gehen manchmal unerwartete Wege. Die Aufgabe derjenigen, die in diesem Bereich arbeiten, ist es zu begleiten, auch wenn die Ereignisse manchmal gegen ihre persönliche Überzeugung sind. Wenn jemand die psychologischen Prob-leme einer schwangeren Frau, die sich weigert Mutter zu werden, nicht verstehen kann, scheint es mir vernünftig, dass er die Betreuung abgibt, anstatt der Frau seine eigene Überzeugung aufzuzwingen. Die gegenwärtige gesetzliche Lage ermöglicht es den Frauen zu wählen. Schließlich ist die anonyme Geburt in keiner Weise eine Pflicht.
Die häufigen Misshandlungen, welche zu den beschriebenen psychologischen Schwierigkeiten und Notsituationen führen können, sollten nicht übersehen werden. Nicht zuletzt gibt es ein großes Wiederholungsrisiko von Gewalt und/oder Verdrängung einer Schwangerschaft, falls Frauen gezwungen werden, ein Kind zu lieben, welches sie nicht gewollt haben.

Zur Autorin:
Catherine Bonnet ist Kinderpsychiaterin und Psychoanalystin. Seit vielen Jahren untersucht sie die Hintergründe, warum Frauen anonym entbinden und ihr Kind anschließend zur Adoption freigeben. Sie hat drei Bücher sowie zahlreiche wissenschaftliche Artikel dazu veröffentlicht.

Literatur
Bonnet, Catherine: Geste d’amour (Geste der Liebe, bisher nur in Französisch erschienen), Odile Jacob, Paris (1990)
Bonnet, Catherine: Les Enfants du Secret (Kinder mit einem Geheimnis, bisher nur in Französisch erschienen), Odile Jacob, Paris (1992)

Weitere Informationen: www.anonyme-geburt.at
Kontaktadresse: cbon750@hotmail.com (bitte in Englisch oder Französisch)